Welches Tool für welche Art von Videokonferenz?

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“Nimm doch Zoom. Das kann auch mit vielen hundert Teilnehmenden umgehen. Mein Konzern setzt das weltweit ein. Und gestern hatten wir ein Meeting mit 1.500 Leuten.” Ich rate mal: Für die meisten von uns sieht eine Videokonferenz dann doch etwas anders aus. Aber wo sind die Unterschiede?

Nein, das wird kein Text über “Warum wir Zoom nicht einsetzen”

Den gibt es bereits an anderen Stellen. Beispielsweise hier und hier. Den hier haben wir auch entdeckt und für ziemlich gut befunden.

Heute soll es um das Tool der Wahl für den richtigen Zweck gehen.

1:1-Meetings (oder die Bis-zu-10-Teilnehmer- Konferenzen)

Zwei Menschen haben früher telefoniert. Heute chatten sie gerne. Ob Rocket.Chat oder Threema oder Signal. Von mir aus auch Telegram. Wenn sie sich sehen wollen, sollten Tools gewählt werden, die möglichst wenig Hürden aufbauen und nur die relevanten Funktionen in den Vordergrund stellen. Aus unseren Erfahrungen eignet sich dafür besonders gut:

  • Jitsi Meet
  • Kopano Meet
  • Nextcloud Talk

Alle stellen unmittelbar einen gemeinsamen “Raum” bereit, bei dem es um Sehen, Sprechen, Hören und, wenn benötigt, Screensharing geht. Jitsi Meet lässt sich bequem in Rocket.Chat einbinden und man kann direkt aus einem Chat in das “Videotelefonat” eskalieren. Manchmal ist Sprechen schneller als Schreiben. Und sich dabei in die Augen zu schauen, hilft der Versicherung, dass beide dasselbe meinen.

Gleichwohl erfordert es Disziplin bei allen Beteiligten. Ausgeschaltete Mikrofone als selbstauferlegte “Voreinstellung” sollten selbstverständlich sein, wenn man gerade nichts zu sagen hat. Und das jeder dem anderen eine Screensharing-Session “wegnehmen” kann, ist beabsichtigt, weil darauf vertraut wird, dass man das nicht macht, wenn es keinen Grund dafür gibt.

Die obengenannten Tools können selbstverständlich auch mit größeren Runden umgehen. Grobe Richtlinie: 5 bis 15 (bei Jitsi auch deutlich mehr).

Adminforge betreibt in Deutschland eine öffentliche Instanz, die ganz spannende Einblicke in die aktuelle Auslastung geben. Die deutschsprachige Drupal-Community hat gerade ihr erstes virtuelles Meetup abgehalten und 50 Teilnehmende gleichzeitig in der Spitze stellten kein Problem dar.

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Grafana-Dashboard Jitsi-Instanz von adminforge

Schulungen, Verkaufsveranstaltungen und organisierte Meetings

“Viele Teilnehmende, aber mehr Einschränkungen für diese” - so würde ich die Anforderungen an solche Videokonferenzen grob zusammenfassen.

Wir reden hier über Rollen. Es sind nicht mehr alle gleich. Auch deshalb gibt es kein Vertrauen, dass Menschen das schon untereinander selber regeln. Ein “Moderator” will die Teilnehmenden stummschalten können. Vielleicht sollen diese sich sogar untereinander gar nicht sehen dürfen. Weder Bild noch überhaupt die Anwesenheit. Fragt man Vertriebsmenschen, sind die gleichzeitigen Besucherzahlen natürlich riesig. 75+ muss die Infrastruktur aushalten. Alle mit 4K-Videobild und Dolby Surround. Darunter geht nichts.

Der Raum soll selbstverständlich nicht von jedem geöffnet werden. Erst wenn die Moderatorin anwesend ist, dürfen Teilnehmende den Raum betreten. Gerne auch nur auf Einladung. Dann werden sie einzeln hereingebeten. Sprechen gibt es nur nach Handzeichen.

Für realistisch halten wir Raumgrößen um 30 Personen. Die können dann durchaus ihr Videobild einschalten und dürfen auch mal was sagen.

Aus dem Open-Source-Bereich fällt uns dazu eigentlich nur BigBlueButton ein. Diese Software wird gerne in Schulen, Universitäten und auch immer mehr in der Wirtschaft eingesetzt. Nebenbei: Es ist auch unser Tool der Wahl und da wir Wiederholungen hassen, lieben wir die Aufnahmefunktion. Einmal eine gute Session aufgenommen und beliebig oft als Recorded Show wieder abspielen :)

Die Einbindung von BigBlueButton in Content-Management-Systeme wie WordPress und Drupal oder Lernplattformen wie Moodle machen die Instanz zu einem Schweizermesser für Videokonferenzen.

Aber 100+ Teilnehmende in einem Raum? Das würden wir auch mit BigBlueButton nicht machen.

1:unzählige

Die Osterveranstaltung "Easterhegg" vom Chaos Computer Club, der Internetkongress re:publica Berlin oder die obengenannte Ansprache des Managements an die Angestellten: Da geht es nicht um 1:1 oder 1:15 oder 1:50. Da heißt es: Streaming. Das Feedback der Teilnehmenden muss anders eingefangen werden und Einzelgespräche werden sicherlich kuratiert.

Dafür bietet sich RTMP-Streaming an. Bleiben wir bei Open-Source-Lösungen, nutzen wir dafür OBS und setzen einen Restreaming-Server auf. Die Verteilung auf die Massen überlassen wir dann gerne auch YouTube und Facebook. Die können das.

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Ein Screenhot einer Videokonferenz mit mehreren musizierenden Menschen

Und für Konferenzen?

Bislang habe ich vor allem eine ermüdende Aneinanderreihung von Webcasts erleben dürfen. Was wir als Flurgespräche (Hallway-Tracks) an echten Konferenzen so lieben - die lockeren, informellen Begegnungen am Kaffeeautomaten, das (gesuchte oder zufällige) Kennenlernen anderer Gäste in der Raucherecke - ist in der digitalen Ausführung schwierig. Die re:publica hat zumindest probiert, die Hoftreffen der Station ins Virtuelle zu übertragen, und ist zu Einzelräumen in Zoom gewechselt. Nicht schön, aber pragmatisch. Die WordPress-Community hat eine Art Chat-Roulette eingeführt, um wildfremde Menschen zusammenzubringen. So wie es uns von Konferenzpausen vertraut ist: “Ich bin da mal in dich reingelaufen. Hallo, Unbekannter.”

Eine ganze Branche ist hier auf der Suche nach dem richtigen Toolset. Lasst es uns mit Open-Source-Software machen!

Und so mit Angucken und Aufeinanderzugehen auf Konferenzen?

Ich erlebte Ende der 90er VRML. Später Second Life. Heute ist mit der Oculus Quest die erste VR-Brille auf dem Markt verfügbar, die keine Kabel mehr zu einem leistungsfähigen Windows-PC benötigt. Ich glaube, das ist ein Gamechanger.

Nach meinen ersten Erfahrungen sind die Ansätze von VRChat und AltspaceVR spannend. Aber ich freue mich richtig, dass es auch in diesem Bereich bereits eine Open-Source-Community gibt, die mit Alloverse versucht, den zukünftigen “Facebooks im VR-Bereich” etwas entgegenzusetzen.

Stellt euch vor euer Avatar, geht auf Avatare zu, die andere Menschen repräsentieren. Ihr kommt ins Gespräch - und wenn es langweilig ist, könnt ihr nicht einfach das Browserfenster schließen. Ihr verabschiedet euch. Heute können wir das jederzeit noch auf Verbindungsprobleme schieben :)

Aber echt. Das ist noch einmal eine ganz andere Art des Miteinanders.

Also gleich alles überspringen und direkt in VR?

Für ein “Vergesst Videokonferenzen!” ist es heute noch zu früh. Überlegt, was ihr braucht. Wählt die Tools, die für die Anforderungen geeignet sind. Wählt freie Software, die unter eurer Kontrolle ist. Vertraut nicht auf Werbeversprechen. Macht eure eigenen Erfahrungen.

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Stephan Luckow

Stephan ist Open-Source-Evangelist und ständig neugierig auf Technologien. Thematisch lassen sich seine Blogbeiträge am ehesten zusammenfassen unter "Wissensdurst (vorerst) gestillt".

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