Smartphone für Blinde – iOS oder Android?

von Dennis Westphal

Erscheinungsdatum

Die Frage, welches mobile Betriebssystem besser ist, wurde bestimmt schon millionenfach erörtert. Dabei wird die Gruppe der blinden und sehbehinderten Nutzer allerdings nie berücksichtigt. Das soll dieser Beitrag ändern.

Rahmenbedingungen dieses Vergleichs

Als blinder Nutzer habe ich sowohl Android als auch iOS mehrere Jahre verwendet, bin also ein versierter Nutzer, kein Einsteiger. Für die Bedienung nutze ich die vorhandenen Screenreader (VoiceOver bei iOS und Talkback bei Android). Im Test waren Apples iPhone 7 mit iOS 11.1 sowie Googles Pixel 2 mit Android 8.0, die jeweils mehrere Wochen als alleiniges Smartphone in meinem Alltag genutzt wurden. Verglichen werden hier Hardware und Betriebssystem im Zusammenspiel, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne detaillierte Kenntnis, ob Funktionen dem Betriebssystem oder dem Hersteller der Hardware zuzuschreiben sind. Bei den Apps wurden jeweils die im Lieferumfang bereits enthaltenen getestet.

Hardware: der erste Eindruck

Ob das Gerät schick aussehen soll, mag dem individuellen Befinden überlassen sein. So oder so spielt aber das Hardware-Design für uns eine große Rolle.

Beispielsweise gibt es leider einen Trend weg vom Kopfhöreranschluss. Kopfhörer verschaffen uns Privatsphäre, denn andernfalls bekommt jeder in unserer Umgebung zumindest so viel mit, dass wir gerade die Bluetooth-Verbindung mit dem Gerät starten, oder aber wir haben den Lautsprecher so leise gestellt, dass Sehende meinen mögen, wir bedienten das Gerät mit dem Ohr. Nun ja, das ist ja auch nicht so ganz falsch. Zumindest sind hierfür Hardware-Lautstärketasten hilfreich, die zum Glück noch nicht auf der Abschussliste stehen.

Pixel 2

Das Google Pixel 2 fühlt sich im Vergleich mit dem iPhone nicht ganz so kalt und glatt an. Die Bedienelemente finden sich am rechten Rand des Smartphones und lassen sich mit einem recht angenehmen Druckpunkt bedienen. Die Rückseite ist zweigeteilt, was man ziemlich deutlich spürt. Ebenfalls auf der Rückseite befindet sich der Fingerabdrucksensor und eine etwas herausstehende Kameralinse. Das Google Pixel 2 liegt angenehm in der Hand und ich hatte zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass es mir aus der Hand rutschen könnte.

iPhone 7

Das iPhone hat lediglich den Einschaltknopf auf der rechten Seite des Geräts. Lautstärketasten und der Schalter zum Stummschalten des Geräts befinden sich auf der linken Seite. Der Homebutton, der gleichzeitig Fingerabdrucksensor ist, befindet sich auf der Frontseite, zentral unter dem Display. Mit seiner glatten Oberfläche rutscht mir das iPhone häufig aus der Hand. Mit einer Hülle lässt sich das Problem aber beheben.

Einrichtung und Anpassung auf die Bedürfnisse Blinder

Google Pixel 2

Nach dem Einschalten legt man zwei Finger auf das Display, bis ein Ton zu hören ist, gefolgt vom englischsprachigen Hinweis, dass man dabei ist, den Accessibilitymode einzuschalten, und die Finger liegen lassen soll, wenn das beabsichtigt ist. Im Anschluss öffnet sich direkt ein Tutorial, in dem man die Navigation mit TalkBack erlernen kann. Das Tutorial selbst ist wirklich gut gegliedert, allerdings immer noch in englischer Sprache.

Anschließend kann man die Sprache einstellen. Hierbei ist allerdings dringend zu beachten, dass die Einrichtung mit TalkBack ausschließlich in englischer Sprache vorgenommen werden kann. Stellt man die Sprache auf deutsch um, wird man prompt mit Schweigen bestraft.

Der Rest der Einrichtung inklusive des Einrichtens eines Fingerabdrucks zum Entsperren des Geräts (wenn man das denn möchte) verläuft problemlos. Im Anschluss daran kann man übrigens die Sprache endlich auf deutsch stellen. Die benötigten Sprachdaten für die Sprachausgabe werden dann heruntergeladen.

Mit Android 7.0 ist übrigens der Bug beseitigt worden, der die selbstständige Einrichtung des Smartphones durch blinde Menschen verhinderte. Im Netz findet sich diese Kritik an den vorigen Android-Versionen vielfach. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Solche Aussagen sind nicht mehr gültig.

iPhone

Beim iPhone drückt man nach dem Start des Geräts dreimal den Homebutton. Anschließend wird man von VoiceOver in sämtlichen Sprachen begrüßt und kann die Sprache einstellen. Das iPhone kann also direkt in deutscher Sprache eingerichtet werden. Der weitere Einrichtungsprozess ähnelt dem von Android mittlerweile sehr stark, so dass hier nicht näher darauf eingegangen wird. Ein Tutorial ist verfügbar, muss aber nach der Einrichtung gezielt aufgerufen werden.

Apps in der Alltagsbenutzung

Beide Smartphones sind im Alltagsgebrauch sehr schnell. Die Unterschiede liegen gerade für Nutzer der Screenreader bei den verschiedenen Apps. Exemplarisch möchte ich hier ein paar Nutzungssituationen mit der unterschiedlichen Bedienung vorstellen.

Webbrowsing

iOS: Safari

Auf dem iPhone wird mit einer schnellen Wischbewegung nach rechts auf dem Display zum nächsten Element der Webseite navigiert. Das funktioniert äußerst zuverlässig. Möchte man genauer navigieren, hat man die Möglichkeit, zwischen Überschriften, Links, Wörtern und sogar Zeichen zu navigieren. So sollte man sich schnell auch auf unbekannten Seiten bewegen können, um deren Inhalt zu erfassen.

Wischt man mit drei Fingern von unten nach oben auf dem Display, scrollt man eine Bildschirmseite nach unten, wobei die Position im Inhalt angesagt wird, in Form von „Seite 2 von 33“. Ist man damit vertraut und kennt häufig benutzte Seiten gut, lässt sich dadurch ungemein schnell zum gewünschten Inhalt springen.

Sehr nützlich ist auch, dass Safari Inhaltsblocker anbietet, womit Werbung gar nicht erst angezeigt wird, die man unter Umständen nicht wegklicken könnte.

Android: Chrome

Unter Android funktioniert das Browsing ähnlich. Auch hier gibt es mehrere Strukturebenen, durch die man navigieren kann. Die Bedienung ist allerdings ein wenig anders. Was einem dabei besser gefällt, muss man ausprobieren. Das Scrollen funktioniert hier mit zwei Fingern, die man aufs Display legt und sie langsam hoch oder runter schiebt. Zu beachten ist hierbei, dass das Scrollen so funktioniert wie bei sehenden Menschen auch. Man muss sich also merken, auf welcher Höhe der Seite man sich ungefähr befindet. Als akustisches Äquivalent des (beim Scrollen dezent sichtbaren) Scrollbalkens gibt es in Form von kurzen Tönen, deren Tonhöhe sich zum Ende der Seite hin erhöht.

Unverständlich für mich ist, dass man wirklich genau auf eine Textzeile tippen muss, um den Inhalt vorgelesen zu bekommen. Tippt man zufällig auf einen Zwischenraum, gibt TalkBack den Titel der Seite wieder. Auch das kontinuierliche Lesen funktioniert eher schlecht als recht, weshalb ich sehr schnell dazu übergegangen bin, manuell von Absatz zu Absatz zu springen. Allerdings ist selbst das kein Garant dafür, dass man nicht plötzlich in der Statusleiste hängt und sich fragt, was da eigentlich kaputt gegangen ist.

Randbemerkung: Erst kürzlich hat Google angekündigt, künftig nervende Werbung im Chrome-Browser zu blockieren. Da Popovers & Co regelmäßig zu Bedienfallen für Screenreader-Nutzer werden, ist das ein wünschenswertes Feature (zumal Werbetreibende uns Sehbehinderte üblicherweise ohnehin nicht als Zielgruppe betrachten). Alternativ gibt es aber beispielsweise auch den Brave Browser, der diese Funktionalität bereits mitbringt und sich gut bedienen lässt.

Twitter

Die Twitter-App funktioniert auf beiden Geräten ähnlich gut. Das gilt auch für Benachrichtigungen, private Nachrichten und Co.

iOS

Unter iOS wird ein Tweet samt seinen Optionen in einem Element zusammengefasst. Ein Wisch nach rechts bzw. links navigiert zwischen den einzelnen Tweets hin und her. So kann man extrem schnell schauen, was es Neues in der Timeline gibt. Möchte man mit den Tweets interagieren, kann man entweder den Tweet mit einem Doppeltipp öffnen und anschließend antworten, retweeten oder man tippt doppelt mit zwei Fingern auf das Display, um ohne Umweg direkt eine Liste mit den Interaktionsmöglichkeiten zu öffnen.

Android

Hier kann man sich ebenfalls den Inhalt durch Wischgesten erschließen. Allerdings braucht es mindestens eine mehr pro Tweet. Zudem ist es nicht möglich, innerhalb eines Tweets Hashtags gezielt aufzurufen oder Links anzuklicken. Es gibt allenfalls einen Umweg für die wortweise Navigation, aber das erfordert auch wieder mehrere Wischbewegungen.

Einen Pluspunkt gibt es dann aber doch: Die App startet dreimal so schnell wie unter iOS.

Facebook

iOS

Die Facebook-App verhält sich im Grunde genommen genau so wie die Twitter-App.

Reaktionen auf einen Beitrag können ausgeklappt werden, wodurch sich eine Baumstruktur ergibt – das macht das Navigieren sehr einfach. Ärgerlich ist allerdings, dass Aufforderungen zu Bewertungen (z. B. von Orten, Konzerten) schlichtweg nicht zugänglich sind. Gleiches gilt für Umfragen. Zudem schaffen es die App-Entwickler auch in schönster Regelmäßigkeit, irgendetwas mehr oder weniger Gravierendes für VoiceOver-Nutzer kaputt zu machen.

Android

Auch hier verhält es sich ähnlich wie mit der Twitter-App. Hier bewerte ich es allerdings positiv, dass die verschiedenen Interaktionselemente einzeln zugänglich sind und nicht zusammengefasst werden. Auch Umfragen sowie Aufforderungen, einen Ort oder etwas anderes zu bewerten, funktionieren hier problemlos. Unschön ist das Navigieren durch den Kommentarverlauf. Antworten auf Kommentare werden in einem Overlay geöffnet. Nach dem Schließen des Overlays passiert es gern, dass der komplette Kommentarstrang neu geladen wird, wodurch die aktuelle Position verloren geht.

Ausgesprochen negativ fiel zudem der extreme Energiehunger der App ins Gewicht.

E-Mail

Viele Sehende lesen E-Mails ungern auf dem Smartphone, weil ihnen auf dem kleinen Display die Übersichtlichkeit fehlt. Dieses Problem haben wir blinden Nutzer nicht, so dass E-Mails auf dem Smartphone für uns einen höheren Stellenwert haben.

Signifikante Unterschiede zwischen den Mail-Apps gibt es nicht. Sowohl unter iOS als auch unter Android lassen sich Mails relativ angenehm bearbeiten.

Hardware: Was noch gesagt werden sollte

Habe ich eingangs nur den ersten Eindruck von den Geräten vermittelt, soll zum Schluss noch auf ein paar entscheidende Komponenten eingegangen werden.

Lautsprecher

Die Lautsprecher der beiden Geräte unterscheiden sich nur maginal. Durch die Ausrichtung der Lautsprecher beim Pixel 2 ergibt sich ein angenehmeres Klangbild. Sprache scheint ein wenig besser verständlich. Allerdings sind beide nicht wirklich für das Musikhören gebaut.

Bluetooth

Beide Geräte wurden mit drei verschiedenen Bluetooth-Headsets getestet. Generell fällt auf, dass das iPhone hier eine bessere Figur macht: Einerseits ist der Klang deutlich besser, andererseits ist die Steuerung der Lautstärke einfacher.

Gibt es bei iOS eine Einstellung für die Lautstärke, die sowohl die Medienlautstärke als auch die Lautstärke des Screenreaders gleichermaßen anpasst, hat Android gleich vier unabhängig voneinander zu bedienende Regler. Es gibt dabei keine Option, diese einfach zusammenzufassen, so dass es vorkommen kann, dass man die Medienlautstärke verändern möchte, weil einem die Musik ins Ohr brüllt, während man den Screenreader einfach nicht versteht, weil er zu leise ist.

Ebenfalls negativ fällt bei Android auf, dass das Audioducking, also das Verringern der Lautstärke anderer Audioquellen, wenn der Screenreader etwas ausgibt, äußerst unzuverlässig funktioniert. Nützlich ist diese Funktion ohnehin nicht, da die Lautstärkeregler nicht aneinander angepasst werden. Wer generell die Lautstärke des Screenreaders stärker als die der Medien haben möchte, findet hier vielleicht, wonach er sucht. Ich persönlich fand es im Alltag sehr irritierend, dass die Lautstärkenänderung ein mehrstufiger Prozess ist und die Einstellungen nach dem Trennen der Headsets zurückgesetzt werden.

Zugegebenermaßen machen es die unterschiedlichen Konzepte der Lautstärkeregelung schwer, optimale Möglichkeiten für individuelle Vorstellungen anzubieten. Wer gerne tüftelt, mag vielleicht gerade mit den granularen Einstellmöglichkeiten bei Android besser bedient sein. In diesem Punkt ist eine objektive Bewertung unmöglich.

Fazit

Welches Smartphone bzw. Betriebssystem das bessere ist, beantwortet wie so oft letztlich kein Produktvergleich. Die individuellen Vorstellungen sind immer maßgeblich.

Bekommt man bei Apple etwas, das nach dem Auspacken problemlos funktioniert, einen aber sehr limitiert, bekommt man von Google ein System, das relativ viele Möglichkeiten bereithält, sich aber nicht ganz rund anfühlt. Auf eine spezialisierte App unter iOS kommen fünf bei Android, die erst einmal ausprobiert werden wollen, um das zu finden, was am besten passt.

Was die Funktionalität beider Systeme betrifft gibt es aber nichts auszusetzen. Beide bringen einen durch die Aufgaben, die man täglich mit einem Smartphone erledigt.

Ich persönlich werde aber wieder das iPhone bevorzugen, weil es ein insgesamt stimmigeres Ganzes ergibt und ich deutlich schneller zu gewünschten Ergebnissen komme. Dennoch gefallen mir die eher offene Architektur und die längere Akkulaufzeit von Android besser und ich werde auch immer wieder den Vergleich anstellen, um auf dem Laufenden zu bleiben. Die wirkliche Stärke von Android sehe ich in der Möglichkeit, das Gerät sehr stark an die individuellen Bedürfnisse anzupassen.